Auf dem Weg nach Tokio oder noch eine Samurai-Geschichte

SakamotoReisetage haben immer zwei Seiten. Einerseits verbringt man lange Zeit sitzend in Bussen, Zügen, auf Bahnhöfen. Die Zeit, die einem dann noch bleibt, lässt keine großen Unternehmungen zu. Planlos schlendert man durch die Orte, die für das Gefüge der großen Reise nur eine Notwendigkeit darstellen, aber eigentlich zum Vergessen bestimmt sind. Doch den Kopf nicht voller Pläne zu haben, öffnet den Blick für die kleinen Geschichten.

Zum Beispiel die Geschichte von den Schulkindern, die gelbe Helme trugen. Die Stadt Kagoshima sollte eigentlich nur Durchgangsstation meines Aufenthaltes auf der Insel Yakushima sein. Dann aber stand mir der Vulkan Sakurajima im Weg. Bereits bei der Abfahrt der Fähre hatte ich mir fest vorgenommen, ihn bei meiner Rückkehr ein wenig näher zu betrachten. In einem englischen Reiseführer hatte ich gelesen, dass die Menschen in Kagoshima ihre Schirme nur wegen der Asche aufspannten, die dort Tag und Nacht vom Himmel regnen würde. Nun ja, ganz so ist es nicht gewesen, doch in den Straßenrillen und am Gehsteigrand hatten sich überall kleine graue Häufchen von Vulkanstaub angesammelt. Da ich nicht viel Zeit hatte, nahm ich den Bus, um die Vulkaninsel, die seit dem großen Ausbruch von 1914 allerdings keine mehr ist, zu umrunden. Damals wurde der kleine Meeresarm, der die Insel vom Festland trennte, gänzlich mit Lava zugeschüttet. Auf dem Rückweg hielt der Busfahrer neben einigen Orangenbäumen kurz an und erklärte etwas auf Japanisch. Mich interessierte jedoch viel mehr die Gruppe von Schulkindern, die an uns vorübergingen und winkten. Zusätzlich zu ihren blau-weißen Schuluniformen trugen sie einen gelben Schutzhelm. Der Grund leuchtete mir auch ohne Erklärung sofort ein. Besorgt schaute ich zum Vulkan hinauf. Doch der lag träge in der Abendsonne, ließ sich seine kräftigen Bergflanken bescheinen und regte sich nicht. Nicht einmal eine kleine Eruption war zu sehen.

Auf dem Weg zum Bahnhof begegneten mir zwei Personen, die nicht nur in der Geschichte Kagoshimas, sondern für ganz Japan eine bedeutende Rolle spielten. Es handelte sich um Sakamoto Ryōma und seine Frau Oryō.

1853 ankerte in der Bucht von Tokio eine amerikanische Flotte unter dem Kommando von Admiral Matthew Perry, um die Einrichtung von Handelsbeziehungen mit dem seit über 200 Jahren für Ausländer unzugänglichem Land zu erwirken. Die Bedeutung dieser erzwungenen Öffnung für die Geschichte Japans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie beendete das Shogunat und damit die Herrschaft der Samurai und leitete Japans Umwandlung von einem feudalen Herrschaftssystem in einen modernen Staat ein. Auf diesen als Meiji-Restauration bezeichneten Prozess wird noch überall im Land durch Straßennamen, Denkmäler, Schreine, Museen, Geldnoten etc. Bezug genommen. Aus ihm hervor ging sogar eine neue Ära von Kaisern, die eben mit jenem Kaiser Meiji ihren Anfang nahm und bis heute andauert.

Sakamoto Ryōma war ein Samurai und damit ein Vertreter der herrschenden Kriegerkaste des Landes. Nach der Landung der amerikanischen Schiffe kursierten erstmals einige amerikanische Ideale auch innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit, wie etwa die Idee von der Gleichheit aller Menschen. Von dieser Idee inspiriert, gab Ryōma seinen Status auf und wurde zu einem Rōnin, einem herrenlosen Samurai. Nur so konnte er diese Idee glaubwürdig verbreiten und politisch vertreten. Dass es sich bei Ryōma um einen Idealisten handeln musste, versteht man, wenn man sich klar macht, was es bedeutete, seine Stellung als Samurai aufzugeben. Man verlor damit auf einen Schlag Einkommen, Unterkunft und das Schlimmste seine Ehre und damit sein Ansehen in der Gesellschaft. Wer solch eine Idee der Gleichheit verbreitete, machte sich unter den Mitgliedern der herrschenden Klasse keine Freunde. Ryōma hielt sich gerade in einem Badehaus in Kyoto auf, als ein Attentat auf ihn ausgeübt werden sollte. An dieser Stelle betritt Oryō die Bühne der japanischen Geschichte. Sie war es nämlich, die die Attentäter bei der Planung ihrer Tat belauscht hatte, und nun auf das Schnellste Ryōma zu warnen gedachte. Dabei blieb ihr keine Zeit, den Kimono überzuwerfen. Allein aus diesem Grund wird Sakamoto Ryōma sie nicht zur Frau genommen haben. Vermutlich spielte auch eine Rolle, dass das Attentat dank ihrer Warnung missglückte und der Fürst von Kagoshima beide zu einem längeren Erholungsurlaub einlud, auf dem sie sich womöglich näher kennen und lieben lernten. Diese Wochen gelten in Japan als der Vorläufer und das Ideal aller Flitterwochen. So war es das Verdienst Ryōmas gleich zwei Ideale in die japanische Gesellschaft eingeführt zu haben. Nachzutragen bleibt noch, dass er ein Jahr später nicht so viel Glück hatte. In dem Badehaus, in dem das Attentat auf ihn dann gelang, war man offensichtlich mehr um seine Blöße als um das Wohlergehen der Gäste besorgt gewesen. Jedenfalls scheinen japanische Badehäuser gefährliche Orte zu sein, weshalb ich sie auf dieser Reise zunächst einmal mied.

Meine letzte Zwischenstation auf dem Weg nach Tokio war Fukuoka, die größte Stadt Kyushus im Norden der Insel liegend. Mit ihren breiten, ausladenden Straßen und Alleen erinnerte sie mich ein wenig an Hiroshima oder an das vertrautere Berlin. Fukuoka ist berühmt für Ramen. Ramen ist eine Nudelsuppe. Nun wird man nicht allein für eine Nudelsuppe landesweite Berühmtheit erlangen und ich würde sicher auch nichts über sie schreiben, wenn es sich nicht um eine besondere Suppe handeln würde, die mir zudem auch noch sehr gut schmeckte. Sie besteht aus Brühe, Schinken, geröstetem Seetang, Frühlingszwiebeln, Bambussprossen, Chili, dunklem Sesamöl und natürlich sehr langen, dünnen Ramen-Nudeln, bei denen man vor der Bestellung ihren Al dente-Grad (weich, medium oder hart) bestimmen kann.

Auf einem mittelgroßen Platz zwischen den Einkaufsmeilen weckte eine Zeltstadt mein Interesse, vor der hunderte Fahnen wehten und über der eine verführerische, süßlich, pikante Duftwolke schwebte. Ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Fukuoka Ramen Show“ hing über der Eingangstür eines angrenzenden Einkaufszentrums. Die Fahnen markierten mit ihren verschiedenen Farben und Zeichen offenbar die Wege, die jeweils zu einem bestimmten Stand führten, aus dem heraus den wartenden Gästen große, dampfende Schüsseln gereicht wurden. Vor jedem markiertem Zugang stand ein Junge oder ein Mädchen mit einem Schild vor der Brust und eines auf dem Rücken sowie der entsprechenden Fahne in der Hand und versuchte, durch lautes Geschrei die Gäste von den Vorteilen der jeweiligen Ramensuppe zu überzeugen. Ich konnte keine Stimmzettel entdecken, bin mir aber sicher, Zeuge des bekanntesten japanischen Ramen-Wettbewerbs gewesen zu sein, bei dem Ramen-Restaurants aus dem ganzen Land über neun Tage in einem Geschmackswettkampf gegeneinander antreten. Leider fehlte mir, wie so häufig an Reisetagen, die Zeit, um mich in eine der Schlangen einzureihen. Ein wenig hungrig machte ich mich also auf zu meiner letzten Station in Japan, dorthin, wo die Reise vor drei Wochen begonnen hatte, nach Tokio.

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